Flüchtlinge 2015 - Ein Rückblick

Gießener Anzeiger, 22. Oktober 2025

»Wir haben viel abgefedert«
Ein Jahrzehnt »Info-Point« für Geflüchtete in Linden – Besuch bei den Helfern

Flüchtlinge 1

von ERNST WALTER WEISSENBORN
Linden. Ob verwirrende Handyrechnung, Wohnungssuche oder Arzttermine, der »Info-Point« in Linden und mittlerweile darüber hinaus ist die erste Anlaufstelle für Geflüchtete. Seit 2015 die Menschen aus Syrien, Irak, Iran und Afghanistan in Deutschland Zuflucht suchten, gibt es ein Netzwerk von Freiwilligen. An jedem Mittwoch von 9 bis 12 Uhr wird im heutigen Jugendzentrum im »Funpark« beraten. Mittlerweile gehört eine Ukrainerin als Dolmetscherin dazu, und seit dem Krieg am östlichen Rande Europas auch Volodymyr Shutyi, der seinen Landsleuten beim Wohnungsfinden hilft. Derzeit sind es weniger Geflüchtete aus Syrien, dafür umso mehr Menschen aus der Ukraine und der Türkei, die vorsprechen.

Soziale Angebote

Martina Stöhr von der Lindener »Generationenbrücke« ist die einzige Festangestellte, die die Hilfe koordiniert und selbst beim Ausfüllen von Formularen mithilft. Sie besetzte vor 15 Jahren die »Koordinierungsstelle, um das Zusammenleben der Generationen zu verbessern und soziale Isolation zu mindern«. So steht es auf der Internetseite der Institution, die in Linden nicht nur für Geflüchtete zuständig ist. Ob Internet-Café, Seniorenwerkstatt und -begleiter, Bürgerbus, Taschengeldbörse, die sozialen Angebote sind vielseitig. Die Hilfe für die Flüchtlinge ist einer von 21 Zweigen sozialen Engagements.

Stöhr erinnert sich im Gespräch mit dem Anzeiger, wie im Oktober 2015 der erste »Info-Point«, damals noch in der Volkshalle in Leihgestern, als Anlaufstelle entstand. Auf dem Festplatz war ein Leichtbauzelt für die Ströme der Geflüchteten errichtet worden. Aus einer Bürgerinformationsversammlung heraus hatten sich Menschen gemeldet, die helfen wollten.

»Ich kann mich auch noch gut an einen Syrer im Zelt erinnern, der bei uns unbedingt als Zahnarzt arbeiten wollte. Heute hat er eine Praxisbeteiligung in Wiesbaden.« Und »Abut, ja, der hat bei einer Gießener Firma in der Produktion angefangen, war schon Informatiker in Syrien. Jetzt hat er sich bis zur IT-Abteilung hochgearbeitet, auch ganz ohne anerkannten Abschluss. Das sind zwei der schönsten Geschichten«, blickt die Sozialarbeiterin auf das Jahrzehnt zurück.

Fahrradwerkstatt

Im Kern besteht das »Info-Point«-Team aus vier Personen. Ursula Weigand, Adelheit Korkesch, Rosi Kirchhöfer und Anne Mertens nehmen sich zusammen mit Stöhr der Fälle an. Dazu werden in der Woche bis auf Freitag Deutsch-Treffen veranstaltet. Silke Röger-Rolke, die die Deutsch-Treffs von Anfang an begleitet, und Anne Mertens sind Freiwillige der ersten Stunde.

Um Mobilität zu gewährleisten, wurde vor einem Jahrzehnt auch eine Fahrradwerkstatt aus der Taufe gehoben. Deren ehrenamtliche Reparateure machten für Menschen mit wenig Geld bisher rund Geflohen aus der Heimat: Ankunft vor dem Leichtbauzelt in Linden vor zehn Jahren. 600 Drahtesel wieder fit. Gerhard Trinklein engagiert sich seither hier federführend.

»Unsere Angebote sind mittlerweile Selbstläufer. Der Landkreis schickt uns Menschen, aber auch das Jobcenter. Doch alles können wir nicht leisten, gerade beim Bundesamt für Asylverfahren haben wir keinerlei Einfluss«, betont Stöhr. Und Fälle wie der von Aysu Muradova aus Aserbeidschan, die jetzt in Linden ihre Ausbildung im Seniorenzentrum fortsetzen kann, erinnern daran, wie zäh und aufwendig es gerade ist, Menschen Perspektiven zu geben.

Seit März 2022 helfen Ukrainer im »Info-Point«: Shutyi organisiert Wohnraum, Svetlana dolmetscht. »Das erspart den Ukrainern den Gang in die Erstaufnahmeeinrichtung.« Im »Info-Point« werden vielfach Dinge, die schon den Deutschen nicht immer leicht fallen, geregelt. Schulanmeldungen, Arztbesuche, Jobcenterleistungen, Bildung und Teilhabe-Anträge, Kontakte zu örtlichen Vereinen, Umgang mit der GEZ (Gebühreneinzugszentrale fürs Fernsehen und Radio) sind nur einige. In Linden werden mittwochs dazu Gespräche geführt, Formulare vorgezeigt, ausgefüllt, aber auch ausgetauscht. »In jedem Fall haben wir heute tiefe Einblicke in den Behördenapparat«, schmunzelt Stöhr.

Tragik und Ängste

»Wir erleben hier viel Schönes, aber auch tragische Momente. Die Familien, die damals auf den Festplatz mit Kleinkindern kamen, schauten wieder vorbei, als ihre Kinder in den Kindergarten gingen und dann in die weiterführenden Schulen. Wir bekommen hier aber auch die Ängste mit, wenn es um Duldungen geht, diese auslaufen und jemand abgeschoben wird.« Die Polizei tauche jedenfalls nie »aus heiterem Himmel« auf. Es würden zweimal Termine am Flugplatz seitens der Behörden vorgegeben. Wer dann nicht da sei, bei dem klingele um fünf Uhr morgens die Polizei und »nimmt ihn mit. Das Schlimmste ist immer, wenn Kinder dabei sind.«

Gerade ändert sich viel. Die Familienzusammenführung für subsidiär Schutzberechtigte sei ausgesetzt. Ein junger Mann, der seit zwei Jahren mit der Botschaft und der Ausländerbehörde um die Einreise seiner Frau und drei Kinder kämpfe, erlebt Stöhr am Boden zerstört. Kurz vor deren Einreise machte die Aussetzung all seine Bemühungen zunichte. Die syrischen Geflüchteten warten seit Monaten auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag. Die Bearbeitung ist aber aufgrund der geänderten politischen Situation im Heimatland ausgesetzt. »Da passiert dann auch nichts im Bundesamt.«

Wohnungssuche

Eine Leihgesterner Großfamilie wartet gespannt, wie es in Syrien nach dem Machtwechsel gerade weitergeht. Sie sind 2015 mit einem Boot gekommen, wollen ihre Namen nicht in der Zeitung lesen. Eine Tochter ist ins Jugendzentrum gekommen, um eine schulische Angelegenheit ihres Nachwuchses zu regeln. Sie sitzt neben Stöhr, beide kennen sich seit der Ankunft der Familie. Die nächste Generation will hier bleiben, sagt sie. Die Kinder sind in Deutschland groß geworden. Stöhr weiß, dass es bei der gut integrierten Familie schon interne Diskussionen gibt, ob Ramadan gefeiert wird oder nicht. Es verändere sich etwas, der Glaube werde gelebt, aber angepasst, oft schon »super aufgeweicht«.

Immer noch sei es für arabische und besonders afrikanische Geflüchtete schwierig, Flüchtlinge 2Wohnungen zu finden. Für Ukrainer sei das einfacher. Stöhr kennt allerdings viele Ukrainerinnen, die wieder heimgekehrt sind in das Kriegsland, gerade ältere Frauen: »Sie schaffen das hier nicht!« Eine davon habe sich gleich in den Bus gesetzt, als der Sohn an der Front im russisch besetzten Gebiet verletzt wurde. »Wir haben alle gesagt, bleib hier, du kannst eh nichts machen. Hier bist du sicher«, doch die Mutterinstinkte waren stärker.

All diese Geschichten gibt es in ähnlicher Form in einem weiteren Raum zu hören, wo Frauen aller Nationen Alltagsdeutsch lernen und sich austauschen. Hier finden diejenigen zusammen, die von Krieg, Verfolgung, aber auch Naturkatastrophen aus ihrer Umgebung gerissen wurden und alles verloren haben. Das Reden mit anderen Landsleuten ist tröstlich, die Schicksale ähneln sich und die wichtigste Frage lautet: Wie sieht es im eigenen Land aus? Meist sind es 15 Frauen, oft ältere, die hier zusammenkommen.

»Die jungen Leute werden in Maßnahmen untergebracht, aber ab 60 macht das Jobcenter nichts mehr. Unsere Sprachtreffen sind das älteste Generationenbrücke-Angebot für Migrantinnen. Seit 2010 gibt es diese Möglichkeit. Es geht darum, dass die Frauen rauskommen und mal etwas im Rewe-Markt beim Einkaufen fragen können«, so Stöhr.

Sprachbarrieren

Die Ehrenamtlichen sind die Säulen des Ganzen. Zum Team der Deutschtreffs gehören Annelie Kern, Horst-Peter Lüllau, Joachim Burnau und Silke Röger-Rolke, die an vier Tagen in der Woche unterrichten. Und die Übersetzer bauen die Verständigungsbarrieren ab. Doch »ohne Smartphone-Apps wie den Google-Übersetzer geht hier gar nichts«.

Mit den Jahren ist es nicht einfacher geworden, die Ehrenamtlichen zu halten. Manch einer ist des Alters wegen ausgeschieden, andere hatten keine Kraft mehr, waren ausgebrannt. »Es wird hier viel über das eigene Schicksal erzählt, aber manch einer will den Hintergrund gar nicht wissen, sondern nur in der Situation helfen.«

Gerade wenn es Kinder betrifft, gehen die Erzählungen tief unter die Haut. Ein afghanischer Junge etwa verlor bei einem Angriff sein Augenlicht: »Ja, er geht damit um, ist jetzt in Friedberg auf der Blindenschule«, meint Stöhr und schweigt dann kurze Zeit. »Wir gehen nicht in die Unterkünfte. Das Ziel ist, dass die Menschen hierherkommen, wenn sie Hilfe brauchen. Wir wollen nicht in deren Wohnzimmer schauen.«

Zu viel Papierkram

Helfer werden immer gesucht: »Es ist kein Hexenwerk, einen GEZ-Antrag auszufüllen«, wirbt Stöhr für weitere Mitstreiter. Anne Mertens ist eine der Helferinnen, die schon bei der ersten Infoveranstaltung in der vollbesetzten Stadthalle dazustieß. Damals war sie 65 Jahre alt. Vielen ist die Seniorin als Lehrerin an der Anne-Frank-Schule noch gut bekannt. Sie findet, dass der Papierkram für die Geflüchteten überbordend ist: »Ich wünsche mir weniger Formulare. Und Beamtendeutsch zu verstehen, das muss man wollen. Flüchtlinge können das erst recht nicht.« Letztlich ist es die tiefe Verbundenheit mit den Menschen und deren Schicksalen, die die 75-Jährige antreibt: »Es sind Freundschaften draus geworden.«

Natürlich hat es in all den Jahren auch schon Streitereien zwischen Deutschen und Geflüchteten gegeben, öfter ging es mal um Lautstärke. Das weiß mittlerweile die Polizei und spricht die »Info-Point«-Initiatorin Martina Stöhr als Schlichterin an. »Es gab auch Situationen, die brauche ich nicht mehr«, erinnert sich die Sozialarbeiterin.

Ihr Resümee nach 15 Jahren »Generationenbrücke« und zehn Jahren »Info-Point« ist eindeutig: »Wir waren viel zu leise. Es gab wenig Ärger und Probleme. Wir haben viel abgefedert.«

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