Gießener Anzeiger, 26. September 2025
Wedemann verweigert Unterschrift
Erhebliche Mängel in Jahresabschlüssen – Erleichterungen vereinbart
VON THOMAS WISSNER
Linden. 38 Kilometer liegen zwischen Linden und Löhnberg im Landkreis Limburg-Weilburg, das zum Synonym einer hessischen Kleinstadt mit Finanzschieflage wurde. In Linden denkt mancher gerade an »Löhnberg II«, doch das passt nicht. Bürgermeister Fabian Wedemann (CDU) sprach schon in der Finanzausschusssitzung von »schwerwiegenden Mängeln in der städtischen Haushaltsführung seit 2009« und legte dazu in der Stadtverordnetensitzung einen Magistratsantrag vor.
Dem war ein sechsseitiges Schreiben des Hessischen Innenministeriums vom 3. September beigefügt. Eine »Lex Linden«, eine Ausnahme, verschaffen der Stadt Aufstellungserleichterungen für die noch zu erstellenden Jahresabschlüsse 2013 bis 2024. Dafür hat Wedemann gesorgt.
Hochgekocht ist die gesamte Angelegenheit, weil sich Lindens aktueller Bürgermeister bereits im November 2024 bei einem Termin mit der Kommunalaufsicht weigerte, den Jahresabschluss 2012 zu unterzeichnen. Der Betriebswirt erklärte, dass er keine Verantwortung für einen Abschluss übernehmen könne, der weit vor seiner Zeit als Stadtoberhaupt aufgestellt worden war und in dem die kommunale Finanzaufsicht erhebliche Mängel aufzählt.
Im Gegensatz zu Löhnberg verschwanden im Lindener Rathaus wohl keine wichtigen Unterlagen, sondern es gab eine exorbitante Anhäufung von Buchungsfehlern und Versäumnissen.
Der Zeitraum der noch offenen Jahresabschlüsse erstreckt sich über eineinhalb Dekaden, vieles ist gar nicht mehr nachvollziehbar. Doch Wedemann betont: »Es gibt keine Anzeichen, dass sich ein Vorgänger bereichert hat.«
Ergänzend verweist er auf den Prüfungsbericht 2012, in dem auch zur Kassenprüfung klargestellt wird, dass sich wesentliche Feststellungen nicht ergaben.
Dennoch ist die Liste an Verfehlungen lang: Fehlende oder fehlerhafte Buchungen bei Grundstücksgeschäften, nicht nachvollziehbare Forderungen, unvollständige Rückstellungen sowie Abweichungen bei der Bilanzierung von Vermögen.
Vergleichbare Fehler bestehen auch für die Folgejahre bis 2021.
Hinzu kommen Probleme bei der Abgrenzung zwischen Stadt und dem Eigenbetrieb Stadtwerke, die bis 2019 teilweise ein gemeinsames Bankkonto nutzten. Auch die Jahresabschlüsse des städtischen Eigenbetriebs wurden nicht vollständig korrekt abgestimmt.
Während der städtische Eigenbetrieb zum Jahresultimo 2025 aufgelöst werden soll, weil eine Korrektur der Zahlen für den zurückliegenden Zeitraum kaum mehr möglich ist, sollen nun bei den Haushaltsabschlüssen die Erleichterungen greifen. Dafür hat sich Wedemann an das Innenministerium gewandt, das ein Einsehen hatte. Er und Kämmerer Mike Frey sowie die Kommunalaufsicht einigten sich, wohl auch, weil die Situation »von uns ungeschönt« dargelegt und erörtert wurde, sagte Wedemann den Stadtverordneten.
»Finanzlage nicht zutreffend«
Die zum 1. Januar 2009 in allen hessischen Kommunen erfolgte Umstellung auf die Doppik ist die Ursache des Übels. »Sowohl die Eröffnungsbilanz als auch die Jahresabschlüsse 2009 bis 2011 erhielten eingeschränkte Prüfvermerke. Die Jahresabschlüsse 2012 bis einschließlich 2023 wurden vom Magistrat der Stadt Linden aufgestellt. Bisher ist die Prüfung des vorgelegten Jahresabschlusses 2012 durch die Revision des Landkreises Gießen abgeschlossen. Diese kommt zur Auffassung, dass die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Stadt Linden nicht zutreffend dargestellt wird. Ein Bestätigungsvermerk wird daher versagt«, heißt es auf Amtsdeutsch im Schreiben.
Die Jahresabschlüsse des Eigenbetriebs seien bis zum Jahr 2021 durch einen Wirtschaftsprüfer mit Testaten versehen, der für die öffentlich-rechtlichen Jahresabschlüsse nicht vorgesehen ist. Zum Haushaltsjahr 2012 der Stadt Linden stellt die Revision fest: »Prüffähige Unterlagen für den Jahresabschluss 2012 der Stadt Linden liegen nicht vor. Bei Grundstücksverkäufen wurde der Grundstücksabgang nicht in der Anlagenbuchhaltung gebucht. Der jeweilige außerordentliche Erlös aus Grundstücksverkäufen ist um den Grundstückswert zu hoch verbucht. Grundstücksteilungen und Grundstückstauschgeschäfte wurden in der Anlagenbuchhaltung nicht sachgemäß erfasst«.
Konkret wurden Geschäfte mit der Hessischen Landgesellschaft (HLG), die mit der Erschließung und Vermarktung des Neubaugebietes »Nördlich Breiter Weg« in Leihgestern beauftragt waren, nicht ordnungsgemäß verbucht.
Millionen-Buchungen waren ohne gesetzlich verankerte Genehmigung der Aufsicht erfolgt. Hier war noch im Übergang der heutige Ehrenbürgermeister Dr. Ulrich Lenz (CDU) involviert. »Wir haben aber tatsächlich durch das damalige Handeln, die Umschichtung eines Kredites, 2,4 Millionen Euro eingespart«, betonte Wedemann auf Nachfrage.
Es fehlt an der Vollständigkeit
Vieles ist für den Laien nicht nachvollziehbar, entspricht nicht den Regeln der Doppik. »Die Vollständigkeit des Jahresabschlusses kann durch den aktuellen Bürgermeister nicht bestätigt werden. Die Ordnungsmäßigkeit der Haushaltswirtschaft im Berichtsjahr 2012 kann ebenfalls nicht bestätigt werden«, heißt es. Das eingeschaltete Ministerium kommt daher zur Feststellung, »dass die korrekte Fortschreibung der Vermögenswerte und Schulden und damit ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz und Ertragslage der Gemeinde bisher nicht dargestellt wird.« Dies alles führe dann zu einem negativen Gesamturteil.
Waren die Jahre unter den Bürgermeistern Lenz und Jörg König (beide CDU) und den Kämmerern Frank Hölzel und Florian Jochim geprägt von erheblichen Mängeln, so gibt es nun einen klaren Fahrplan zur Aufarbeitung.
Wedemann zeigte sich trotz der schwierigen Lage optimistisch und dankbar über die nun mögliche Lösung. Für 2013 bis 2021 werden die Abschlüsse nur noch mit Vermögens-, Finanz- und Ertragslage dargestellt – ohne Anhang oder Rechenschaftsbericht. Inventuren müssen keine durchgeführt werden. Die Jahresabschlüsse ab 2022 müssen gesetzeskonform aufgestellt werden. Ab 2026 wird eine ordnungsgemäße Haushaltsführung von der Aufsicht erwartet.
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STICHWORT
Die Doppik ist ein Buchführungssystem, das auf der doppelten Buchführung basiert und im öffentlichen Sektor die traditionelle Kameralistik ersetzt. Sie erfasst auch Vermögenswerte und Schulden. (twi)