Gießener Allgemeine > Kreis Gießen > Linden 13. Januar 2025
»Wir sind die Buhleute«
Die schwierige Finanzlage der Kommunen trifft auch die Stadt Linden. »Die Zeit der Luftschlösser ist vorbei«, sagt Bürgermeister Fabian Wedemann (CDU). Steuererhöhungen seien unvermeidlich. Wedemann hat allerdings auch klare und einleuchtende Vorschläge, wie die Situation für die Kommunen künftig verbessert werden kann.
Herr Wedemann, vielen Städten und Gemeinden droht der finanzielle Notstand, Sie haben kürzlich für die Stadt Linden gesagt: Die Zeit der Luftschlösser ist vorbei. Was muss sich ändern, um die Lage der Kommunen zu verbessern?
Wie sagt man so schön? Wer bestellt, bezahlt. Vom Grundsatz her müsste sich vor allem eines ändern: Wer einen Antrag einbringt, welche Partei und auf welcher politischen Ebene auch immer, ob Bund, Land oder Stadt, muss verpflichtend darstellen, wie das Vorhaben finanziert wird. Das ist bisher nicht der Fall. Auf Landesebene werden Versprechungen mit Ganztagesplätzen in Kitas gemacht - die Kommunen müssen es regeln. Geflüchtete kommen hierher - die Kommunen müssen es bezahlen.
Dass es in Linden nun zu Steuererhöhungen kommt, steht fest?
Es geht gar nicht anders. Die Einnahmen aus der Gewerbesteuer brechen ein. Das ist ein riesengroßes Problem. Bei zwei großen Unternehmen in der Stadt ist es ein Einbruch von jeweils einer Million Euro. Wir bekommen also deutlich weniger, gleichzeitig will der Landkreis mehr von uns über die Umlagen. Dann ist man sofort im Verlustbereich. Es ist eine bescheidene Situation. Aber ich schiebe den schwarzen Peter nicht an den Landkreis, da bin ich Realist genug. Die brauchen ja auch von irgendwoher die Kohle, die können sie nur von uns holen. Und wir Kommunen können es nur von den Bürgern holen. Wir sind dann die Buhleute.
Die Stadt Linden hat Rücklagen in Höhe von etwa 25 Millionen Euro. Linden ist kreisweit - pro Einwohner gerechnet - die Kommune mit der geringsten Verschuldung. Sie stehen doch noch ganz gut da.
Ich will mich gar nicht beschweren. Sicher, der Kontoauszug lügt nicht. Das ist der Unterschied zu einer Kommune wie Löhnberg, die wirklich kein Geld mehr hat. Aber nehmen wir mal an, ich habe privat 30 000 Euro auf meinem Sparbuch und sehe, dass meine Ausgaben jeden Monat um 500 Euro höher liegen als ich Geld verdiene mit meinem Job. Eine solche Situation beobachten wir gerade. Wir sind im Sinkflug, wenn wir so weitermachen wie bisher. Dann wird es irgendwann den Klatscher auf dem Boden geben, auch wenn das in anderen Kommunen, die eben keine Rücklagen mehr haben, deutlich schneller passieren wird.
Bevor Sie Bürgermeister geworden sind, haben Sie für die Sparkasse Gießen neben Unternehmen auch Kommunen beraten. Ist die jetzige Lage so dramatisch und einzigartig, wie sie aktuell dargestellt wird?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel, um die heutige Situation zu erklären. Als mein Opa sein Haus gebaut hat, ein Dreifamilienhaus, hat er eine Hypothek aufgenommen in Höhe von 70 000 Mark, hat aber zwölf Prozent Zinsen bezahlt. Bei meinem Haus ist es fast eine halbe Million Euro, ich habe aber nur 0,8 Prozent Zinsen gezahlt. Jetzt haben wir die Situation, dass die Leute immer noch die gleichen Preise wie ich zahlen, die Zinsen aber deutlich höher sind, bei drei, vier Prozent liegen. Das kann sich keiner mehr leisten.
Wie könnte man die Lage der Städte und Gemeinden kurzfristig verbessern?
Man hätte den Solidaritätszuschlag, anstatt ihn abzuschaffen, halbieren können. Das hätte den Steuerzahler auch entlastet, und man hätte diesen halben Betrag für die Kommunen verwenden können. Für die Infrastruktur in ganz Deutschland. Man hätte damit Brücken oder auch Dorfgemeinschaftshäuser sanieren können. Das ist verschlafen worden. Jetzt ist der Soli weg. Und die Leute haben sich daran gewöhnt, dass sie, was diesen Punkt angeht, mehr Geld in der Tasche haben. Mit Sicherheit würde mir außerdem ein Experte aus Bund oder Land erklären, warum man eine solche Umfunktionierung des Soli nicht machen kann.
In Linden stehen nun Diskussionen über Prioritäten an. Sie haben im November erklärt, dass man unterscheiden muss zwischen »sehr wichtigen« und »wichtigen« Vorhaben. Was würden Sie als »sehr wichtig« einordnen?
Wir haben im November bei der Klausurtagung des Magistrats tatsächlich eine Prioritätenliste festgelegt, die unsere Verwaltung derzeit aufbereitet, damit wir die Liste den Gremien und der Öffentlichkeit vorstellen können. Die Feuerwehrwache in Leihgestern, die in einem schlechten Zustand ist, ist sehr wichtig. Die muss funktionieren, wenn es brennt. Gleichzeitig ist unser Freibad in die Jahre gekommen, funktioniert aber auch noch in fünf Jahren so, wie es jetzt ist. Das ist wichtig, muss aber nicht sofort gemacht werden.
Was ist mit dem Neubau der maroden Stadthalle?
Die Stadthalle halte ich für sehr wichtig, für unsere Jugend, für unsere Vereine, für unseren Sport.
Eine Machbarkeitsstudie, die einige Jahre zurückliegt, hat für einen Neubau knapp sieben Millionen Euro kalkuliert. Ein Neubau der Feuerwehrwache in Leihgestern dürfte auch in die Millionen gehen.
Bei der Stadthalle dürften es inzwischen mehr werden. Bei der Feuerwehr würde ein Neubau um die sieben Millionen Euro kosten. Allerdings kann ich sowohl die Stadthalle als auch die Feuerwehrwache über 30 Jahre finanzieren.
Rückt die seit Jahren geplante Modernisierung des Rathauses, das barrierefrei werden soll, nach hinten?
Eigentlich nicht. Wir sind, was den Umbau angeht, mit einem Lindener Unternehmen für eine Machbarkeitsstudie im Gespräch. Da geht es um die Optimierung von Arbeitsplätzen, um eine energetische Sanierung und um die Barrierefreiheit. Wenn jemand im Rollstuhl unser Rathaus besucht, kann die Person auf jeden Fall bei uns bedient werden. Wir können die Tür aufhalten und ebenerdig im Bürgerbüro alles erledigen. Aber wir brauchen uns nichts vormachen: Allein die Tür, die man als Rollstuhlfahrer nicht alleine öffnen kann, ist ein Hindernis. Das ist peinlich im Jahr 2025. Wir müssen etwas machen. Auch weil das Gebäude einfach in einem alten Zustand ist.
Und wie sieht es mit der geplanten Entlastungsstraße zwischen Großen-Linden und Leihgestern aus?
Ich habe nach meinem Amtsantritt gesagt, dass die Entlastungsstraße schnell kommen muss wegen der anstehenden Sanierung der Brücke zwischen Großen-Linden und Leihgestern. Jetzt ist ja bekannt, dass Hessen Mobil die Brückensanierung früher angeht als bisher gedacht. Die Entlastungsstraße wird vorher nicht fertiggestellt sein können allein wegen des Themas artenschutzrechtlicher Fachgutachten. Hinzu kommt, dass wir gerade für das Vorhaben erst einmal Grundstücke ankaufen. Es dauert also. Es ist von der Priorität her ein bisschen nach unten gerutscht. Aber die Entlastungsstraße wird in einem anderen Projekt im Mittelpunkt stehen.
Inwiefern?
Im Rahmen von »Linden 2036«. Wir wollen Lösungen für die großen Fragestellungen der Stadt finden, ein externes Beratungsbüro betreut das Projekt. Ich durfte entscheiden, was aus meiner Sicht die höchste Priorität hat. Deshalb wird jetzt ein Mobilitätskonzept erstellt. Dabei wird durch Verkehrsmessungen auch beleuchtet, inwiefern eine Entlastungs- und eine Umgehungsstraße wirklich helfen könnten. Das ist das Erste, was wir im Rahmen von »Linden 2036« angehen werden.
Eine Entlastungsstraße wird also nicht in dieser Amtszeit kommen.
Genau. Wenn Hessen Mobil die Brücke zwischen Großen-Linden und Leihgestern-Mitte 2026 saniert, müssen wir aber trotzdem eine Verbindung zwischen den beiden Stadtteilen schaffen. Wir werden mit Hessen Mobil und mit der Naturschutzbehörde über eine Umleitung auf Feldwegen reden, um den Mühlberg und den Forst nicht zusätzlich zu belasten. Das sollte die Zielsetzung sein, auch wenn das nicht schön ist. Spaziergänger müssten in dieser Zeit mit ihren Hunden dann andere Feldwege nutzen. Da müssen wir dann leider alle ein bisschen flexibler sein.